1942
Erwin Rousselle


(*1890, U1949) Studierte in München, Heidelberg, Freiburg und Berlin. 1916 zum Dr. phil. (Sinologie, Buddhologie, Mandschurisch, Tibetisch) und 1921 zum Dr. jur. promoviert. Nach der Habilitation erhielt er 1924 den Ruf an die Universität Peking als Professor für deutsche Philosophie (als Nachfolger von Richard Wilhelm). Nach Wilhelms Tod übernahm er wiederum als dessen Nachfolger 1929 die Position als Direktor des China-Instituts an der Uni Frankfurt und begann dort mit dem Aufbau einer kunsthistorisch wertvollen Sammlung. 1931 war er Lehrbeauftragter für Sinologie und Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Frankfurt. 1938-40 folgte ein weiterer Aufenthalt in China. Nach seiner Rückkehr geriet Rousselle, wahrscheinlich wegen seinen religionswissenschaftlichen Arbeiten, ins Visier der Nazis und verlor 1941 erst seinen Lehrstuhl für Sinologie, dann 1942 die Leitung des China-Instituts. 1943 wurde Rousselle gar mit einem Redeverbot an der Universität belegt. Aus Sorge um seine Familie zog sich Rousselle daraufhin nach Eschenlohe in Oberbayern zurück. Bei einem Bombenangriff im März 1944 wurde das Gebäude des China-Instituts mit dem größten Teil der Kunstsammlung zerstört. Rousselle starb 1949 in Eschenlohe, ohne dass man ihn in Frankfurt rehabilitiert hatte oder ihn die Lehrtätigkeit wieder aufnehmen ließ.

Lau-dse , Führung und Kraft
aus der Ewigkeit. (Dau-Dö-Ging).
Aus dem chinesischen Urtext übertragen
von Erwin Rousselle.
Insel Verlag, Leipzig 1942


 

 

          "Lau-dse war  Tempelschreiber, das heißt Schriftgelehrter, Annalist und Bibliothekar, und zwar am Archiv der Dschou-Kaiser in ihrer Residenz Lo-yang am Gelben Fluß. Aus der Kenntnis der alten Überlieferung also und ihrer Verbindung mit dem Feuer seines Geistes entstehen die leuchtenden Aphorismen seiner Weisheit. ...
          Das Tao Te King hieß ursprünglich wohl Huang Lau Yen, "Worte des Huang-di und des Lau-dse". In diesem Doppeltitel spricht sich schon aus, daß es zwei verschiedene Quellen sind, aus denen sich der Text zusammensetzt. Die erste Quelle ist die Überlieferung älteren oder jüngeren Datums, Sprüche, die dem Huang-di oder einem anderen alten Meister der Vorzeit zugeschrieben werden, und altes Spruchgut, das vielfach im Text als solches gekennzeichnet wird. Huang-di galt als der sagenhafte Herrscher und Kulturschöpfer der Vorzeit, der an der Wende der Steinzeit zum Bronzezeitalter, der Überlieferung der Thai-Kultur nach, den Menschen die Grundlagen der Religion und ihre Offenbarungen vermittelt hat. So wird denn auch beispielsweise der (sechste) Spruch über die dunkle Tiergöttin als Weltenmutter in anderen chinesischen Quellen als Spruch des Huang-di angeführt.
          Die zweite Quelle des Buches aber sind die Worte des Lau-dse selbst. Dabei dürfen wir voraussetzen, daß auch die Sprüche der anderen Quellen von ihm selbst ausgewählt sind, also auch zugleich seine persönliche Auffassung wiedergeben.
Berücksichtigen wir ferner, daß die Sprüche, die wir auf Lau-dse selbst zurückführen können, offenbar weit auseinanderliegenden Lebensaltern entstammen, so ergibt sich verständlicherweise eine außerordentliche Mannigfaltigkeit und Unterschiedlichkeit der einzelnen Kapitel: urälteste Überlieferung, Spruchgut und Sprichwörter des Volkes, Aussprüche hervorragender Meister, dazu Lau-dses erleuchtende Verkündigungen aus den verschiedensten Lebensaltern und aus den verschiedensten Anlässen geboren.
          Die Anordnung des Inhalts des Buches, die vielleicht erst einige Jahrhunderte nach Lau-dse festgelegt worden ist, geht entsprechend der bunten Herkunft und mit vollkommener Lässigkeit einer aphoristischen Erkenntnisweise reichlich unsystematisch vor. Ja, Anordnung und Einteilung sind sicherlich teilweise ganz willkürlich. So bilden die Sprüche 18, 19 und der Anfang von 20 wohl ein einheitliches Kapitel, eine Kritik der Äußerlichkeit, während der ganze übrige Teil des zwanzigsten Kapitels, die Klage der Melancholie, sicherlich selbständig war. Dazu kommt noch, daß die mündliche und schriftliche Überlieferung den Text vielfach verändert und eine Reihe von Lesarten geschaffen hat, die allerdings den Sinn nicht wesentlich berühren. ...
          Von besonderer Kraft ist auch die eigenartige vorklassische Sprache des Lau-dse mit ihrer eigentümlichen Ausgewähltheit der Wörter und Fremdwörter. Insbesondere trägt hierzu bei die - dem Chinesen überhaupt liegende - Bevorzugung der die Sinneseindrücke wiedergebenden gegenständlichen Bezeichnungen an Stelle der Abstrakta. Man darf daher nicht im Deutschen mit abstrakten Begriffen übersetzen, wie zum Beispiel "Einfachheit" statt "Rohholz", denn der fünfzehnte Spruch zeigt in dem Vergleich: "Schlicht waren sie wie Rohholz", daß Lau-dse den bildhaften Gehalt der Worte noch vollkommen spürte. Ebenso darf man nicht sagen "hochmütig", sondern "hochtrabend", da dies Wort im Chinesischen mit Pferd als Sinndeuter und Brücke als Lautdeuter (aber auch als sinnvoller!) geschrieben wird. Dies Wort ist also ursprünglich von der besonderen Gangart eines Pferdes gebraucht. Ebenso ursprünglich und bildhaft wie diese beiden angeführten Wörter ist die Sprache des gesamten kleinen Buches. ...
          Zur Einführung in das Verständnis der Ideenwelt des Lau-dse ist die Einsicht nötig, daß der Herkunft des großen Erleuchteten aus einer mutterrechtlichen Kulturtradition der asiatischen Tai-Stämme seine metaphysischen Auffassungen vom Urgrund der Welt entsprechen. So nämlich erklären sich die vielen Aussagen, die das Dau als Große Göttin-Mutter verkünden, und nicht etwa als Vatergott oder als ein philosophisches Abstraktum. ... Dieser Mythos von der Weltenmutter war weithin über die Erde verbreitet und gehört in seinen Grundlagen zu den ältesten der Menschheit."                                              (Aus dem Vorwort von Erwin Rousselle) 

Rousselle weist darauf hin, dass es sich bei dem Text des TaoTeKing um eine sehr heterogene Zusammenstellung unterschiedlicher Quellen handelt und der Text letztlich als Konglomerat der chinesischen Geschichtsüberlieferung zu betrachten ist. Ein sehr überzeugender Hinweis, denn im TaoTeKing stehen wirklich triviale neben sehr tiefsinnigen Aussagen; auffällig oft wird das Gesagte wiederholt und bei vielen Kapiteln hat man den Eindruck, sie wären einfach nur aus Einzelsätzen zusammengefügt, die keine zwingende Einheit bilden. Auch die Anmerkungen zum mutterrechtlichen Weltbild Laotses sind hilfreich - wenn Rousselle die Idee des TAO dann aber durchgehend bildhaft mit "Führerin des Alls" übersetzt, wirkt das eher befremdlich.
Zu seiner TaoTeKing-Übersetzung hat Rousselle auch einen Kommentarband verfasst, der 1944 in Druck ging, aber zweimal durch Bomben zerstört wurde. Die Druckvorlagen gingen in den Nachkriegswirren dann verloren. Erst 1973 stellte Walter Haug aus Manuskripten, Notizen und Korrekturnoten die verlorene Druckfassung erneut zusammen. Die vielen hierin wiedergegebenen Kapitel des TaoTeKing weisen gegenüber der Originalfassung von 1942 jedoch viele Abweichungen auf, was sicherlich nicht auf Eigenmächtigkeit des neuen Herausgebers beruht. Erwin Rousselle muss die Kapitel des TaoTeKing somit zwischen der Erstausgabe 1942 und der Fertigstellung des Kommentars 1944 bereits wieder umgearbeitet haben.
    

Zurück zur Auswahlseite