

|
"In jüngster Zeit
sind mehrere neue Übertragungen des Tao-te-king erschienen. Indem ich die vorliegende
veröffentliche, hoffe ich, daß gerade in ihrer Fassung der Tao-te-king sich dem
Gedächtnis unsrer Gebildeten einprägen werde. Denn es bedünkt mich, wenn ich sie mit
anderen vergleiche, daß wir in ihr die klassische besitzen; oder wenigstens die, welche
dem Ideal einer klassischen am nächsten kommt und offenbar aus bewußtem Willen zu einer
solchen hervorgegangen ist. Fiedler scheint es sich zum Gesetz gemacht zu haben, nicht
mehr und nicht weniger Worte zu gebrauchen als die Grundschrift, nicht klarer und nicht
dunkler zu sein als sie, ihren fremdartigen, fremdländischen Charakter zu wahren, kein
gesuchtes Pathos in seine Übertragung hineinzulegen und dennoch mit jedem Satz zu
verstehen zu geben, daß es sich nicht um eine profane Abhandlung oder um geistreiche
Aphorismen, sondern durchaus um ein heiliges Buch handle; doch so, daß die Feierlichkeit
sich bei größter Sachlichkeit und Nüchternheit des Textes von selbst einstellt.
Fiedlers künstlerische
Übertragung wird die Benutzung von wissenschaftlichen Übersetzungen und Einleitungen
nicht überflüssig machen; für das große Publikum dürfte die von Wilhelm im Verlag
Eugen Diederichs herausgegebene in erster Linie in Betracht kommen. Beim Vergleich beider
wird man im wesentlichen Übereinstimmung in der Auffassung und Ausdeutung des Textes
feststellen; an einzelnen Stellen wird der Leser dem Sinologen Wilhelm mehr glauben, an
anderen aber vielleicht auch geneigt sein, das Mißverständnis auf der Seite dieses
Wissenschaftlers zu sehen. Aber ich denke, für alle etwaige philologische
Unzulänglichkeit - Fiedler schuf sein Werk ohne irgendwie tiefer eindringende, vielleicht
ohne jede Kenntnis der chinesischen Sprache - entschädigt unendlich die sprachliche Kraft
und Schönheit, der Stil und der Rhythmus seines Werkes, das eben eine wirkliche
Neuschöpfung ist. Ich möchte es durchaus mit der Bibelübersetzung Luthers vergleichen,
die ja, seinen mangelhaften Hilfsmitteln entsprechend, wissenschaftlich nicht zuverlässig
und tadellos, aber durch und durch große Dichtung ist und als solche ewigen und
unbedingten Wertes. Es ist lehrreich, unter diesem Gesichtspunkt Abschnitt für Abschnitt
die Übersetzungen Wilhelms und Fiedlers zu vergleichen. Wilhelm. "Er rnildert ihre
Schärfe. Er löst ihre Wirrsale. Er mäßigt ihren Glanz. Er vereinigt sich mit ihrem
Staube" (4). Fiedler: "Es biegt seine Spitze, gießt aus seine Fülle, bequemt
seinen Glanz an, wird eins dem Staube." Also auch eine inhaltliche Differenz, in der
ich keine Entscheidung fällen kann; aber selbst wenn hier ein Übersetzungsfehler
Fiedlers vorläge - wer möchte ihn wegwünschen? Nicht wenige der schönsten Bibelworte
in Luthers Fassung beruhen auf Übersetzungsfehlern oder Mißverständnissen ("Das
Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Gebärden, sondern es ist inwendig in euch."
"Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme doch
Schaden an seiner Seele?" u. v. a.). Möchte man sie missen oder verbessern? Darauf
kommt es an, daß der Übersetzer seinem Autor so ebenbürtig und so verwandt ist, daß er
aus eigener Fülle etwas hervorbringt, was den großen Schwung des Urtextes nicht
unterbricht und gedanklich seines Platzes würdig ist. Ein anderes Beispiel. Wilhelm:
"Höchste Güte ist wie das Wasser. Des Wassers Güte ist es, allen Wesen zu nützen
ohne Streit. Es weilt an Orten, die alle Menschen verachten. Drum steht es nahe
dem "Sinn". Beim Wohnen zeigt sich die Güte an dem Platze. Beim Denken zeigt
sich die Güte in der Tiefe. Beim Schenken zeigt sich die Güte in der Liebe. Beim Reden
zeigt sich die Güte in der Wahrheit. Beim Walten zeigt sich die Güte in der Ordnung.
Beim Wirken zeigt sich die Güte im Können. Beim Bewegen zeigt sich die Güte in der
rechten Zeit. Wer sich nicht selbst behauptet, bleibt eben dadurch frei von Tadel."
Damit vergleiche man Fiedlers wundervolle Umdichtung des 8. Spruches. Hier hat man
zugleich das unabweisbare Gefühl, daß diese subalterne Auffassung des Wissenschaftlers
auch inhaltlich dem Urtext nicht gerecht werden kann. Oder. "Wer in seinem Ich die
Welt liebt, dem kann man wohl die Welt übergeben" (Wilhelm; Spruch 13).
Fiedler.-" Wer den Staat wie den Leib liebt, dem lasse man den Staat."
(Doppelsinn: wer sich nicht zum Herrschen drängt - denn Leib ist Last - keine
Leidenschaft zum Herrschen hat, und dem das Herrschen natürliche Bestimmung ist). Wieviel
schöner und beziehungsreicher ist es, wenn Fiedler sagt: "so ist der Nichtgute des
Guten Gut", als wenn es bei Wilhelm heißt: "und macht die nichtguten Menschen
zum Stoff für die Guten." Aber so könnte man Spruch für Spruch durchgehen.
Fiedlers Übersetzung ist im Jahre
1899 entstanden und war nur handschriftlich in einem kleinen Freundeskreis verbreitet;
veröffentlicht habe ich sie zum ersten Mal für einen kleinen Leserkreis in der
"Freien Schulgemeinde", Juli 1918. Fiedler ist im Jahre 1900 noch nicht
25jährig, aus unserer Mitte geschieden.
Der Tao-te-king, entstanden vor
gerade zwei und einem halben Jahrtausend, ist die älteste und erhabenste Lehre vom
Übermenschen. Vom Übermenschen im Sinne Asiens, und man braucht mit ihm nur die
klassische Urkunde des europäischen Ideals zu vergleichen, um schon in der Form und
Diktion des ungeheuren Unterschieds, vielmehr des polaren Gegensatzes inne zu werden.
Beides Aphorismnensammlungen; aber bei uns Temperament, Witz, Wagnis, bei jenem wandelt
der Heilige wie ein gewichtiger Wagen. Uns heißt Mensch sein, Kämpfer sein, und
Übermensch Held sein. Jenen ist der Heilige der tatlos Tuende, der nicht Kämpfende. Das
ist der Gegensatz von Asien und Europa. Asien ist wie die große, in sich ruhende Eizelle,
Europa wie das kleine, aber bewegliche und aktive Spermatozoon. Wir glauben an den Geist
"der immer Mann ist", Asien "ehrt die Nährmutter"; "der Geist
der Tiefe, unsterblich, ist dunkles Weib." Wir sind hinausgedrängt auf einen
gegliederten, zerklüfteten Halbinsel-Kontinent, unser Prinzip oder Schicksal mußte
Intensivierung, Bewegung, Persönlichkeit, Eroberertum, Freiheit, Wagnis sein. Losgelöst
von der rnütterlichen Scholle, der unendlichen Ackerflächen entbehrend, mußten wir
unsre Welt uns selbst schaffen, unser Gesetz in uns selbst tragen, tierhaft
umherschweifend, nicht pflanzenhaft wurzelnd. Gegenwärtig aber scheinen wir wirklich vor
die Frage gestellt zu sein, ob wir uns selbst, unser Wesen, unser Schicksal und
Lebensgesetz bejahen wollen. China und Indien werden die Länder, die Kulturen unserer
Sehnsucht und Verehrung und überstrahlen Hellas. Aber ein anderes heiliges Buch Asiens
warnt uns: besser die eigene Pflicht, und sei es auch unter Gefahren, erfüllen, als in
Sicherheit und um der Sicherheit willen die Pflicht eines anderen.
Die chinesische Rasse hat sich als
Dauertypus auf der Erde eingerichtet, die Existenz der europäischen bleibt ewig
problematisch. Sie trägt ihr Leben auf des Schwertes Spitze. Ihre Volksmenge vermehrt
sich nicht gemäß der Ergiebigkeit der Scholle, sondern im Vertrauen auf die Allmacht der
Wissenschaft und der abstrakten Arbeit. Die tragende, nährende Scholle versinkt,
verschwindet, wird unsichtbar. Alles ist Menschenwerk, die Welt ist nicht Ackerfläche,
sondern Markt. Chinas Weisheit besteht darin, das heilige Walten der Weltordnung nicht zu
stören durch Menschentun, vielmehr es alles Tun der Menschen mit durchdringen zu lassen.
Wir bestürmen die "Natur" mit Fragen, ringen mit ihr, möchten sie meistern,
glauben nur an den Geist und geben uns selbst unsre Gesetze. Werden wir jetzt,
enttäuscht, ermüdet, belehrt, unser Europäertum aufgeben und zu den Füßen der
erhabenen Völkerlehrer Asiens einen Frieden suchen, - für den wir nicht bestimmt sind?
Aber eines ward uns als Entgelt
für die Unruhe und Unstätheit unseres Eroberertums zuteil: die Fähigkeit, fremdes Gut
zu schätzen, fremde Gedanken zu verstehen, fremde Größe zu verehren. Und so braucht uns
Fremdes doch nicht entweder ganz verloren zu gehen oder Fremdkörper zu bleiben. Diese
große Assimilationsfähigkeit gehört mit zu unserer räuberischen Natur. Nicht unser
Wesen konstituierend, aber, begrenzend und regulierend, nicht unmittelbar, sondern
mittelbar wird fremde Größe in ihm wirksam werden können.
Fiedler hat den Zentralbegriff
Lao-tses "Tao" mit "Gut" übersetzt (den anderen, häufig
vorkommenden, "Te" mit "Tugend"). Am besten wäre es vielleicht, man
ließe es ganz unübersetzt, doch ging das nicht an in einer Übertragung, die das Werk in
das deutsche Sprachgut einordnen sollte, sowenig wie etwa Luther den "Logos"
unübersetzt lassen konnte. Was mit dem "Tao" gemeint ist, ergibt sich erst aus
dem Ganzen, und man kann vielleicht jenes Wort des Tao-te-king selbst auf es anwenden -
"Dreißig Speichen laufen zur Nabe, durch ihr Nicht wird der Wagen gut." Tao ist
kein formulierbares Prinzip, aus dem man eine Ethik ableiten könnte; was es einheitlich
ist, ergibt sich aus den Tao-gemäßen Handlungen, die von allen Seiten auf es zuführen,
ohne daß es selbst sichtbar wird, und also ohne daß es weder zum Götzen noch zum Dogma
werden kann. Aber Tao ist trotzdem nicht jenes die europäische Mystik aller Zeiten
beherrschende Absolute und letztes Seiende, von dem man nur in Negationen reden kann; es
hat viel konkreteren Charakter, es ist der Weltencharakter selbst, und darum kann es zum
Gesetz des Volkscharakters und des idealen Menschen, des Heiligen, werden. Fiedler hat mit
seiner Übersetzung ("das Gut") wohl an den platonischen Begriff des
"Agathon" erinnern wollen, die höchste, alle anderen in sich begreifende Idee,
und zugleich als das von allen Wesen Erstrebte der Weltbeweger. Das "Gute" aber
kann deshalb die oberste Idee (Gattung) sein, weil der Begriff des Guten sozusagen
absolute Relativität ist: gut ist etwas nie für sich, sondern nur für andere. So ist
diese oberste Idee sozusagen die absolute und restlose Selbsthingabe, und also fähig, den
Kosmos der Ideen mit (logischer) Notwendigkeit zu fordern, aus sich zu setzen. Das Wort:
Gott ist Liebe, sagt etwa dasselbe. Es bedarf keines Nachweises, daß dies auch die
Grundeigenschaft des Tao
ist." (Aus dem Nachwort
von Gustav
Wyneken 1922)
Trotz all dem Lob: Eine Textversion, die wenig erhellt.
Im Nachwort der Zeitschrift "Die Freie Schulgemeinde"
berichtet Gustav Wyneken, dass Fiedler seine 1899 entworfene Textversion des
TaoTeKing im selben Jahr in den Kreis um Gustav Wyneken einbrachte. Da
Fiedler kein Chinesisch konnte, müssen ihm die bis dahin erschienenen
Textfassungen von Strauss, Plaenckner, Noak und Hartmann als
Arbeitsgrundlage gedient haben. Der Text lag nur handschriftlich vor und
wurde ebenso vervielfältigt. Fiedler starb bereits ein Jahr später.
1918 erfolgte die erste Publikation auf Initiative von Gustav Wyneken in
der Zeitschrift "Die freie Schulgemeinde". 1922 gab der selbe
die erste gebundene Ausgabe mit dem obigen Nachwort
heraus.
|