1918
F. Fiedler


(*1875,V1900) Nähere biographische Angaben liegen noch nicht vor. 

DES LAOTSE TAO TE KING
(Erschienen in: Die freie Schulgemeinde. Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena.)
Erste Buchausgabe 1922:
DES LAOTSE TAO TE KING
Herausgegeben von Gustav Wyneken.
Paul Steegemann Verlag, Hannover 

(Die vollständige Textversion finden Sie über diesen Link)

 

 

 

 

 

          "In jüngster Zeit sind mehrere neue Übertragungen des Tao-te-king erschienen. Indem ich die vorliegende veröffentliche, hoffe ich, daß gerade in ihrer Fassung der Tao-te-king sich dem Gedächtnis unsrer Gebildeten einprägen werde. Denn es bedünkt mich, wenn ich sie mit anderen vergleiche, daß wir in ihr die klassische besitzen; oder wenigstens die, welche dem Ideal einer klassischen am nächsten kommt und offenbar aus bewußtem Willen zu einer solchen hervorgegangen ist. Fiedler scheint es sich zum Gesetz gemacht zu haben, nicht mehr und nicht weniger Worte zu gebrauchen als die Grundschrift, nicht klarer und nicht dunkler zu sein als sie, ihren fremdartigen, fremdländischen Charakter zu wahren, kein gesuchtes Pathos in seine Übertragung hineinzulegen und dennoch mit jedem Satz zu verstehen zu geben, daß es sich nicht um eine profane Abhandlung oder um geistreiche Aphorismen, sondern durchaus um ein heiliges Buch handle; doch so, daß die Feierlichkeit sich bei größter Sachlichkeit und Nüchternheit des Textes von selbst einstellt.
          Fiedlers künstlerische Übertragung wird die Benutzung von wissenschaftlichen Übersetzungen und Einleitungen nicht überflüssig machen; für das große Publikum dürfte die von Wilhelm im Verlag Eugen Diederichs herausgegebene in erster Linie in Betracht kommen. Beim Vergleich beider wird man im wesentlichen Übereinstimmung in der Auffassung und Ausdeutung des Textes feststellen; an einzelnen Stellen wird der Leser dem Sinologen Wilhelm mehr glauben, an anderen aber vielleicht auch geneigt sein, das Mißverständnis auf der Seite dieses Wissenschaftlers zu sehen. Aber ich denke, für alle etwaige philologische Unzulänglichkeit - Fiedler schuf sein Werk ohne irgendwie tiefer eindringende, vielleicht ohne jede Kenntnis der chinesischen Sprache - entschädigt unendlich die sprachliche Kraft und Schönheit, der Stil und der Rhythmus seines Werkes, das eben eine wirkliche Neuschöpfung ist. Ich möchte es durchaus mit der Bibelübersetzung Luthers vergleichen, die ja, seinen mangelhaften Hilfsmitteln entsprechend, wissenschaftlich nicht zuverlässig und tadellos, aber durch und durch große Dichtung ist und als solche ewigen und unbedingten Wertes. Es ist lehrreich, unter diesem Gesichtspunkt Abschnitt für Abschnitt die Übersetzungen Wilhelms und Fiedlers zu vergleichen. Wilhelm. "Er rnildert ihre Schärfe. Er löst ihre Wirrsale. Er mäßigt ihren Glanz. Er vereinigt sich mit ihrem Staube" (4). Fiedler: "Es biegt seine Spitze, gießt aus seine Fülle, bequemt seinen Glanz an, wird eins dem Staube." Also auch eine inhaltliche Differenz, in der ich keine Entscheidung fällen kann; aber selbst wenn hier ein Übersetzungsfehler Fiedlers vorläge - wer möchte ihn wegwünschen? Nicht wenige der schönsten Bibelworte in Luthers Fassung beruhen auf Übersetzungsfehlern oder Mißverständnissen ("Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Gebärden, sondern es ist inwendig in euch." "Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme doch Schaden an seiner Seele?" u. v. a.). Möchte man sie missen oder verbessern? Darauf kommt es an, daß der Übersetzer seinem Autor so ebenbürtig und so verwandt ist, daß er aus eigener Fülle etwas hervorbringt, was den großen Schwung des Urtextes nicht unterbricht und gedanklich seines Platzes würdig ist. Ein anderes Beispiel. Wilhelm: "Höchste Güte ist wie das Wasser. Des Wassers Güte ist es, allen Wesen zu nützen ohne Streit. Es weilt an Orten, die alle Menschen verachten. Drum steht es nahe dem "Sinn". Beim Wohnen zeigt sich die Güte an dem Platze. Beim Denken zeigt sich die Güte in der Tiefe. Beim Schenken zeigt sich die Güte in der Liebe. Beim Reden zeigt sich die Güte in der Wahrheit. Beim Walten zeigt sich die Güte in der Ordnung. Beim Wirken zeigt sich die Güte im Können. Beim Bewegen zeigt sich die Güte in der rechten Zeit. Wer sich nicht selbst behauptet, bleibt eben dadurch frei von Tadel." Damit vergleiche man Fiedlers wundervolle Umdichtung des 8. Spruches. Hier hat man zugleich das unabweisbare Gefühl, daß diese subalterne Auffassung des Wissenschaftlers auch inhaltlich dem Urtext nicht gerecht werden kann. Oder. "Wer in seinem Ich die Welt liebt, dem kann man wohl die Welt übergeben" (Wilhelm; Spruch 13). Fiedler.-" Wer den Staat wie den Leib liebt, dem lasse man den Staat." (Doppelsinn: wer sich nicht zum Herrschen drängt - denn Leib ist Last - keine Leidenschaft zum Herrschen hat, und dem das Herrschen natürliche Bestimmung ist). Wieviel schöner und beziehungsreicher ist es, wenn Fiedler sagt: "so ist der Nichtgute des Guten Gut", als wenn es bei Wilhelm heißt: "und macht die nichtguten Menschen zum Stoff für die Guten." Aber so könnte man Spruch für Spruch durchgehen.
          Fiedlers Übersetzung ist im Jahre 1899 entstanden und war nur handschriftlich in einem kleinen Freundeskreis verbreitet; veröffentlicht habe ich sie zum ersten Mal für einen kleinen Leserkreis in der "Freien Schulgemeinde", Juli 1918. Fiedler ist im Jahre 1900 noch nicht 25jährig, aus unserer Mitte geschieden.
          Der Tao-te-king, entstanden vor gerade zwei und einem halben Jahrtausend, ist die älteste und erhabenste Lehre vom Übermenschen. Vom Übermenschen im Sinne Asiens, und man braucht mit ihm nur die klassische Urkunde des europäischen Ideals zu vergleichen, um schon in der Form und Diktion des ungeheuren Unterschieds, vielmehr des polaren Gegensatzes inne zu werden. Beides Aphorismnensammlungen; aber bei uns Temperament, Witz, Wagnis, bei jenem wandelt der Heilige wie ein gewichtiger Wagen. Uns heißt Mensch sein, Kämpfer sein, und Übermensch Held sein. Jenen ist der Heilige der tatlos Tuende, der nicht Kämpfende. Das ist der Gegensatz von Asien und Europa. Asien ist wie die große, in sich ruhende Eizelle, Europa wie das kleine, aber bewegliche und aktive Spermatozoon. Wir glauben an den Geist "der immer Mann ist", Asien "ehrt die Nährmutter"; "der Geist der Tiefe, unsterblich, ist dunkles Weib." Wir sind hinausgedrängt auf einen gegliederten, zerklüfteten Halbinsel-Kontinent, unser Prinzip oder Schicksal mußte Intensivierung, Bewegung, Persönlichkeit, Eroberertum, Freiheit, Wagnis sein. Losgelöst von der rnütterlichen Scholle, der unendlichen Ackerflächen entbehrend, mußten wir unsre Welt uns selbst schaffen, unser Gesetz in uns selbst tragen, tierhaft umherschweifend, nicht pflanzenhaft wurzelnd. Gegenwärtig aber scheinen wir wirklich vor die Frage gestellt zu sein, ob wir uns selbst, unser Wesen, unser Schicksal und Lebensgesetz bejahen wollen. China und Indien werden die Länder, die Kulturen unserer Sehnsucht und Verehrung und überstrahlen Hellas. Aber ein anderes heiliges Buch Asiens warnt uns: besser die eigene Pflicht, und sei es auch unter Gefahren, erfüllen, als in Sicherheit und um der Sicherheit willen die Pflicht eines anderen.
          Die chinesische Rasse hat sich als Dauertypus auf der Erde eingerichtet, die Existenz der europäischen bleibt ewig problematisch. Sie trägt ihr Leben auf des Schwertes Spitze. Ihre Volksmenge vermehrt sich nicht gemäß der Ergiebigkeit der Scholle, sondern im Vertrauen auf die Allmacht der Wissenschaft und der abstrakten Arbeit. Die tragende, nährende Scholle versinkt, verschwindet, wird unsichtbar. Alles ist Menschenwerk, die Welt ist nicht Ackerfläche, sondern Markt. Chinas Weisheit besteht darin, das heilige Walten der Weltordnung nicht zu stören durch Menschentun, vielmehr es alles Tun der Menschen mit durchdringen zu lassen. Wir bestürmen die "Natur" mit Fragen, ringen mit ihr, möchten sie meistern, glauben nur an den Geist und geben uns selbst unsre Gesetze. Werden wir jetzt, enttäuscht, ermüdet, belehrt, unser Europäertum aufgeben und zu den Füßen der erhabenen Völkerlehrer Asiens einen Frieden suchen, - für den wir nicht bestimmt sind?
          Aber eines ward uns als Entgelt für die Unruhe und Unstätheit unseres Eroberertums zuteil: die Fähigkeit, fremdes Gut zu schätzen, fremde Gedanken zu verstehen, fremde Größe zu verehren. Und so braucht uns Fremdes doch nicht entweder ganz verloren zu gehen oder Fremdkörper zu bleiben. Diese große Assimilationsfähigkeit gehört mit zu unserer räuberischen Natur. Nicht unser Wesen konstituierend, aber, begrenzend und regulierend, nicht unmittelbar, sondern mittelbar wird fremde Größe in ihm wirksam werden können.
          Fiedler hat den Zentralbegriff Lao-tses "Tao" mit "Gut" übersetzt (den anderen, häufig vorkommenden, "Te" mit "Tugend"). Am besten wäre es vielleicht, man ließe es ganz unübersetzt, doch ging das nicht an in einer Übertragung, die das Werk in das deutsche Sprachgut einordnen sollte, sowenig wie etwa Luther den "Logos" unübersetzt lassen konnte. Was mit dem "Tao" gemeint ist, ergibt sich erst aus dem Ganzen, und man kann vielleicht jenes Wort des Tao-te-king selbst auf es anwenden - "Dreißig Speichen laufen zur Nabe, durch ihr Nicht wird der Wagen gut." Tao ist kein formulierbares Prinzip, aus dem man eine Ethik ableiten könnte; was es einheitlich ist, ergibt sich aus den Tao-gemäßen Handlungen, die von allen Seiten auf es zuführen, ohne daß es selbst sichtbar wird, und also ohne daß es weder zum Götzen noch zum Dogma werden kann. Aber Tao ist trotzdem nicht jenes die europäische Mystik aller Zeiten beherrschende Absolute und letztes Seiende, von dem man nur in Negationen reden kann; es hat viel konkreteren Charakter, es ist der Weltencharakter selbst, und darum kann es zum Gesetz des Volkscharakters und des idealen Menschen, des Heiligen, werden. Fiedler hat mit seiner Übersetzung ("das Gut") wohl an den platonischen Begriff des "Agathon" erinnern wollen, die höchste, alle anderen in sich begreifende Idee, und zugleich als das von allen Wesen Erstrebte der Weltbeweger. Das "Gute" aber kann deshalb die oberste Idee (Gattung) sein, weil der Begriff des Guten sozusagen absolute Relativität ist: gut ist etwas nie für sich, sondern nur für andere. So ist diese oberste Idee sozusagen die absolute und restlose Selbsthingabe, und also fähig, den Kosmos der Ideen mit (logischer) Notwendigkeit zu fordern, aus sich zu setzen. Das Wort: Gott ist Liebe, sagt etwa dasselbe. Es bedarf keines Nachweises, daß dies auch die Grundeigenschaft des Tao ist." (Aus
dem Nachwort von Gustav Wyneken 1922)

Trotz all dem Lob: Eine Textversion, die wenig erhellt.
Im Nachwort der Zeitschrift "Die Freie Schulgemeinde" berichtet Gustav Wyneken, dass Fiedler seine 1899 entworfene Textversion des TaoTeKing im selben Jahr in den Kreis um Gustav Wyneken einbrachte. Da Fiedler kein Chinesisch konnte, müssen ihm die bis dahin erschienenen Textfassungen von Strauss, Plaenckner, Noak und Hartmann als Arbeitsgrundlage gedient haben. Der Text lag nur handschriftlich vor und wurde ebenso vervielfältigt. Fiedler starb bereits ein Jahr später. 1918 erfolgte die erste Publikation auf Initiative von Gustav Wyneken in der Zeitschrift "Die freie Schulgemeinde". 1922 gab der selbe die erste gebundene Ausgabe mit dem obigen Nachwort heraus.
  

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