1903
Alexander Ular


(*9.6.1876, V1919) Geburtsname: Alexander Ferdinand Uhlemann. In Bremen geborener Wahl-Franzose. Verfasser etlicher "kulturgeschichtlicher Romane". Verheiratet mit Berthe Fleury. Ihr gemeinsamer Sohn Charles lebte von 1902-1966. Ular starb in Marokko.

Die Bahn und der rechte Weg des Lao-Tse.
Der chinesischen Urschrift nachgedacht von Alexander Ular.
Insel-Verlag, Leipzig . 

Die Originalausgabe erschien 1902 in Paris (Éditions de la revue blanche) auf Französisch (Le Livre de la voie et de la ligne droite) und mit dem Vornamen Alexandre, aber auch die deutsche Fassung stammt direkt von Alexander Ular.

  

          "(Die) Europäer ... machten sich mit dem ganzen Dünkel philologischen und philosophischen Besserwissens über den alten toten Meister her. Sie unterwarfen ihn wissenschaftlicher Analyse; sie sezierten ihn philologisch, reduzierten ihn zum bloßen linguistischen Präparat, wickelten ihn in unzählige Fußnoten, Varianten, angeblich kritische Bemerkungen und chinesische Kommentare, und verleibten ihn so den Totenkammern der Literatur, den Bibliotheken, ein. Und dann geschah das Furchtbare - der von den Philologen ganz falsch sezierte Lao-Tse wurde von angeblichen Philosophen, die von jener Anatomenarbeit nichts verstanden, wieder zusammengesetzt und nun als Zerrbild seiner selbst in hahnebüchenen Formen dem achselzuckenden Publikum vorgef'ührt.
          Stanislaus Julien, der große französische Sinologe, versuchte sich als erster am Texte des Tao-Te-King, dem schwierigsten Texte, den die Chinesen kennen. Seine Arbeit ist, als erste, großartig; bloß strotzt sie von Irrtümern und gefährlichen Interpretationen, die damals unvermeidlich waren. Weniger entschuldbar ist jedoch, daß ausnahmslos alle späteren Sinologen, die den chinesischen Originaltext zu übertragen suchten, den grundsätzlichen Fehler des großen Franzosen und der chinesischen Kommentatoren des Lao-Tse wiederholten.
          Dieser Fehler besteht darin, daß man ganz die Zeit der Wirksamkeit des alten Meisters vergaß. Lao-Tse hat vor fünfundzwanzig Jahrhunderten gelebt, und man liest seine Schrift, als wäre sie gestern geschrieben. Sicherlich: nirgends ist ein solcher Irrtum verführerischer als im Chinesischen. Denn heute werden dieselben Hieroglyphen benutzt wie zur Zeit Lao -Tses. Das Schriftzeichen, welches damals Pferd bedeutete, bedeutet es heute noch. Und ein Kochtopf wird schriftlich heute noch mit dem Schriftbild bezeichnet, das Lao-Tse verwandte. Aber was vor fünfundzwanzig Jahrhunderten ein Pferd war, ist auch heute noch ein Pferd; und ein Topf bleibt in alle Ewigkeit ein Topf. Abstrakta dagegen ändern ihren Sinn, wenn sich die Menschen ändern. Sie werden stets im Anfang durch sinnliche Symbole oder durch Analogien mit menschlichen Verhältnissen ausgedrückt. Diese Symbole werden in der Sprache beibehalten, während ihr Inhalt sich mit der Geistesverfassung der Menschen ändert. Und so trifft schließlich der ursprüngliche Sinn des symbolischen Ausdrucks nicht mehr den Sinn, der später ausgedrückt werden sollte, ja verkehrt ihn oft in sein Gegenteil. Und man versteht die alten Texte ganz falsch, wenn man ihren sprachlichen Ausdrücken für Abstrakta den Sinn beilegt, den sie jetzt haben, anstatt festzustellen, welchen Sinn sie zur Zeit der Niederschrift des Textes wirklich gehabt haben.
          Was bedeutet z. B. das lateinische Wort virtus, und was das französische vertu und das deutsche Tugend? Das französische hat, im Singular gebraucht, fast ausschließlich den Sinn weiblicher geschlechtlicher Enthaltsamkeit. Es ist das genaue Gegenteil des lateinischen virtus geworden, das nichts anderes bedeutet als Mannhaftigkeit, oder Typisches am Manne. Das deutsche Tugend bedeutet sprachlich eigentlich nichts weiter als Tauglichkeit, Tüchtigkeit, Fähigkeit zur Tat, während es gerade umgekehrt nunmehr die Fähigkeit bezeichnet, Triebe zur Tat zu inhibieren. Wer die virtus eines Mucius Scävola mit der vertu einer Pariser Arbeiterin verwechselt oder die Tugend Siegfrieds für dasselbe hält wie die Tugend einer treuen Gattin, macht sich lächerlich.
          Ebenso lächerlich ist es, einer chinesischen Hieroglyphe, die unverändert durch die Jahrtausende gegangen ist, in einer Schrift des grauen Altertums denselben Wert und dieselbe Bedeutung beizulegen, die der moderne Chinese ihr zuschreibt. Diesen Fehler haben die Philologen an Lao-Tse begangen. Sie haben vernachlässigt, festzustellen, welchen Sinn die Hieroglyphen, die den Tao-Te-King zusammensetzen, im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung besessen haben. Sie haben vor allem vergessen, daß die chinesische Schrift eine Bilderschrift ist, in der im Altertum natürlich der Sinn jedes Bildes dem Gegenstande, den es darstellt, viel näher stand als jetzt. Zur Zeit des Lao-Tse war der bildliche Sinn aller der Schriftzeichen, die nicht unmittelbar als phonetische Eselsbrücken erkennbar sind, viel weniger abgeschwächt als jetzt, und der ursprüngliche Sinn des Bildes ist bei dem hohen Alter des Textes der einzig annehmbare.
          Die Hieroglyphe "Tao" z. B., die von Lao-Tse zur Bezeichnung des Prinzips seines Systems gebraucht wird, stellt einen ausgetretenen Weg, eine Bahn dar, und wer das Wort mit "Allvernunft" oder gar Gott übersetzt, begeht eine schauderhafte Umdeutung auf der Grundlage modern infizierter und noch dazu indoeuropäischer Vorurteile. Ebenso hat die Hieroglyphe "Te" niemals Tugend bedeutet, als welche sie beharrlich übersetzt wird; sie setzt sich zusammen aus dem Bilde des Geradeausgehens und dem Bilde des Herzens; sie bedeutet also das seelische Geradeausgehen, den Rechten-Weg des Lebens, oder in beschränkterem Sinne allerhöchstens die "Geradheit". Diese beiden, wirklichen Begriffe von "Bahn" und "Rechtem Wege" haben mit dem, was wir uns gemeiniglich unter "Allvernunft" und "Tugend" oder gar unter "Gott" und "Sittenreinheit" vorstellen, absolut nichts zu tun. Meine Übertragung des Tao-Te-King behandelt jede Hieroglyphe des Textes in ähnlicher Weise. Und ich habe hiermit zu meiner Freude an vielen Stellen klaren Sinn und tiefe Weisheit gefunden, wo die chinesischen Kommentatoren Unverständlichkeit und die westländischen Philologen nur zu oft blödes Geschwätz fanden. Es ist hinzuzufügen, daß die auf uns gekommenen chinesischen Kommentatoren, die zum philologischen Studium des Textes als Autoritäten nur zu oft herangezogen worden sind, sämtlich zu einer Zeit geschrieben haben, da die Philosophie des Lao-Tse längst verloren war und der Sinn der Hieroglyphen für Abstrakte, sowie die Syntax, sich stark geändert hatten, so daß sie zum Verständnis des Textes ebensowenig in Betracht kommen, wie beispielsweise die mittelalterliche Scholastik zur Exegese von Bibeltexten. Das Schlimmste aber für Lao-Tse war die vielfache Überarbeitung der falschen philologisch sezierten Übertragungen des Tao-Te-King durch Juristen, Philosophen, Orientalisten und Schriftsteller, die das Chinesische nicht beherrschten. Solche Bearbeitungen, Kritiken und Darstellungen gibt es fast nur in Deutschland. Wir haben Lao -Tses in volkstümlichen gereimten Versen, ja wir haben sogar einen in Knittelversen, dessen sich einer der berühmtesten deutschen Juristen schuldig gemacht hat. Lao-Tse ward zugleich eine leichte Beute der Indianisten, die mit Vergnügen in den ihnen vorliegenden irrtümlichen Übertragungen Wörter wie "Allvernunft", "Askese", ja sogar "Nirvana" feststellten und nunmehr von hoher Warte herab dozierten, Lao-Tse sei eine Art Buddhist (obwohl er vor Buddha lebte), oder seine Philosophie sei die des Vedânta oder der Upanishaden (die fast das genaue Gegenteil der Ideen des Lao-Tse lehren). Aber Lao-Tse interpretiert das Leben, während die Inder immer nur das Hinter-dem-Leben interpretieren. Und es ist nichts als unberechtigtes Ausdehnenwollen der Macht der indoeuropäischen Gedankenwelt, wenn man in Lao-Tse Indisches hineinliest. Es ist so weit gekommen, daß selbst der große Deussen, der ganz im Indischen aufgeht, vermeint, der Tao-Te-King sei eine (indoeuropäische) Palme über dem Gestrüpp des (echtchinesischen) Konfuzianismus, während in Wirklichkeit Lao-Tse womöglich chinesischer ist als Kong-Tse, nur daß jener sich zu diesem verhält wie etwa Kants "Kritik der reinen Vernunft" zu Knigges "Umgang mit Menschen".
          Manche dieser Gelehrten, die Lao-Tses Stellung in der Geschichte der menschlichen Ideen haben feststellen wollen, ohne selbst den Text des Tao-Te-King bearbeiten zu können, haben natürlich in meiner zum ersten Male vor Jahren in französischer Sprache erschienenen Übertragung ihren Lao-Tse nicht wiedergefunden und vergnüglicherweise aus diesem und dem weiteren Umstande, daß ich philologische Fußnoten, Varianten und Kommentare in meinen Arbeitsheften behalte, geschlossen, daß ich ebensowenig das Chinesische beherrsche wie sie, und daß daher meine Arbeit für sie nicht in Betracht kommt. Aber jedenfalls habe ich den Beifall der chinesischen Gelehrten, denen ich an Ort und Stelle die wesentlichen Stellen des Textes, den sie nicht verstanden, in dem nach der oben beschriebenen Methode gefundenen Sinne ins Neuchinesische zurückübersetzt habe, und denen es dabei wie Schuppen von den Augen fiel. ... Meine Übertragung ist für Leser, nicht für Philologen, für Menschen, die den Geist des Werkes, nicht für Gelehrte, die die Kritik des Buches suchen.                 (Aus dem Nachwort von Alexander Ular)

Gut gebrüllt, Löwe! Diesem letzten Satz des Nachworts kann man durchaus zustimmen. Leider bildet das Nachwort aber auch den verständlichsten Teil der ganzen Publikation. Die Übertragung ist für heutige Verhältnisse fast unlesbar, die Ausdrucksweise geschraubt und gestelzt, in seiner Kürze oft unverständlich (Bei Fachleuten und Presse scheint die Ausgabe auch auf wenig Gegenliebe gestoßen zu sein).
  

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