1995
Hans-Georg Möller

(*1964) studierte in Bonn neben Sinologie noch Philosophie und Volkskunde und promovierte über die "Bedeutung der Sprache in der frühen chinesischen Philosophie". In den Jahren 1987 bis 1989 Studienaufenthalt an der Fudan-Universität in Shanghai zur chinesischen Sprache, Philosophie und Literatur. Nach der Habilitation lehrt er nun an der Brock University in Ontario, Kanada.

Laotse , Tao Te King.
Die Seidentexte von Mawangdui.
500 Jahre älter als andere Ausgaben.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. 236 Seiten.
ISBN 3-596-12135-3

( Die vollständige Textversion von Hans-Georg Möller finden Sie
über diesen Link)

          "Das Daodejing ist ein altes chinesisches Buch, von dem man hierzulande nicht allzuviel versteht, in wie vielen Übersetzungen es auch vorliegen mag. Es ist so alt, daß man nicht einmal weiß, wie alt es ist. Man weiß auch nicht, wer es geschrieben hat oder unter welchen Umständen es zustande kam. Bis zum Jahre 1973 war das Daodejing, der Klassiker von Dao und De, allgemein in der Überlieferung des Philosophen Wang Bi bekannt. Wang Bi hatte im 3. Jahrhundert n. Chr. das Buch mit einem eigenen Kommentar versehen. Auch wenn zu seiner Zeit die Schriftkultur in China schon dominant war, war das Buchwesen doch verschieden von dem unserer Tage. Ein Buch, ein "Klassiker" zumal, existierte nicht in Gestalt eines einmal von einer bestimmten Person zu einer bestimmten Zeit verfassten authentischen Textes, sondern in seiner "Überlieferung". Der Text eines "Klassikers" wurde also nicht als das Produkt der Schriftstellerei eines gewöhnlichen Menschen angesehen, sondern er war ein "heiliger Text", irgendwann erschienen, vielleicht durch einen Heiligen verkündet, und dann von den Bewahrern einer Tradition, oft mündlich, in den verschiedenen Ausformungen weitergegeben. Das Buch von "Dao und De" wurde der legendären Figur des Laotse zugeschrieben - die dann zu Zeiten des Wang Bi schon den Rang einer Gottheit innehatte - und zum "Klassiker" erhoben. Wang Bi also schrieb den Text des Daodejing, so wie er ihm vielleicht durch Bücherstudium, vielleicht durch Auswendiglernen bekannt war, noch einmal nieder und setzte zu vielen Sentenzen des Textes eigene Erläuterungen hinzu. Das war eine für einen Gelehrten seiner Tage nicht ungewöhnliche Beschäftigung und sicherlich nicht der erste "Kommentar" zum Daodejing. Aber durch den Lauf der Zeit, durch die Berühmtheit der Person des Wang Bi und vielleicht durch die außergewöhnliche Qualität seines Kommentars, wurde diese Niederschrift späterhin zur Standardversion des Daodejing. Es existieren zwar auch heute noch zum Teil wesentlich ältere Kommentare, aber keiner dieser Texte ist sowohl vollständig erhalten als auch recht zweifelsfrei zu datieren. Aber auch für den Kommentar des Wang Bi gilt wiederum, daß er innerhalb einer vielfältigen Überlieferungslinie weitergegeben wurde. Deshalb kann heute davon ausgegangen werden, daß selbst dieser aktuell in verschiedenen Ausgaben vorliegende Text nicht mit dem wirklich von Wang Bi kommentierten Text identisch ist.
          Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung des Fundes der beiden Seidentexten als Niederschriften des Daodejing zu sehen. Die beiden Texte unterscheiden sich voneinander hauptsächlich durch Schrifttyp und den Zeitpunkt der Niederschrift. Der ältere der Texte ist noch im Stil der vor der Han-Zeit benutzten kleinen Siegelschrift gehalten, der jüngere hingegen in der während der Han-Zeit gebräuchlichen "Kanzleischrift". An manchen Stellen treten Sentenzen in den Seidentexten hinzu oder fehlen dort, bisweilen werden Sentenzen auch in sich umgestellt oder deren Reihenfolge untereinander vertauscht, jedes Kapitel ist jedoch mit seinem Gegenstück im "Standardtext" des Wang Bi vergleichbar. Im einzelnen, nicht zuletzt aufgrund der höheren grammatischen Präzision, scheinen mir die Seidentexte oft schlüssiger als die späteren Versionen. Demnach läßt sich einerseits sagen, daß der Text, wie ihn die Überlieferung zeigt, insgesamt dem Stand des frühen zweiten Jahrhunderts v. Chr. noch sehr nahe ist. Der Vergleich der Textversionen beweist, daß das Daodejing zuerst der gesprochenen Sprache verpflichtet war, nicht so sehr der geschriebenen.
          In seinem Frühstadium war das Daodejing noch eine Ansammlung philosophischer Sprüche, deren Gestalt und Struktur wichtiger waren als exakte Begrifflichkeit. In den späteren Kommentaren, zu einer Zeit, da sich die Schriftkultur immer mehr verfestigte, hing vielleicht mehr am einzelnen Wort, an einer bestimmten Auslegung. Aber zur Zeit der Niederschrift der Mawangdui-Manuskripte dominierte die Ganzheit der Gestalt noch über das Detail. Das Daodejing hat weder einen Autor noch einen "Urtext" in unserem Sinne. Die Übersetzung des Textes stützt sich auf die vom Pekinger Wenwu-Verlag herausgegebene Ausgabe der Manuskripte von Mawangdui. Da in den Seidentexten die Teile "Dao" und "De" in ihrer Reihenfolge vertauscht sind, ändert sich in der Übersetzung notwendigerweise die Numerierung der Kapitel."                                         (Aus der Einleitung von Hans-Georg Möller)

Diese wissenschaftliche Publikation gibt besonders in der Einleitung interessante Hintergrundinformationen zum Daodejing und entwirft eine eigene philosophische Interpretation des Werkes.
  

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