2006 |
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Laotse und das TAO TE KING |
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"Das
TAO TE KING ist ein Text von außerordentlicher Komplexität und Tiefe.
Zum einen liegt es in der Eigenart der chinesischen Schriftzeichen,
mehrdeutig zu sein: sie können mitunter als Substantiv, Verb oder
Adjektiv verwendet werden. Eine Differenzierung der Aussage durch
Deklination und Konjugation ist im Chinesischen nicht möglich.
Satzzeichen fehlen bei älteren Texten oft ganz. Und selbst Zeitangaben
mittels Verben sind unbekannt. So kann man
manche Sätze als Behauptung oder als Frage auffassen. Zum anderen hat
sich im Laufe der Jahrhunderte bei einzelnen Schriftzeichen auch
ein Bedeutungswandel ergeben und chinesische Literaten reduzierten ihre
Texte gerne auf ein Minimum, gebrauchten symbolische Umschreibungen oder
beließen es nur bei Anspielungen. All dies zu berücksichtigen fällt
heute selbst chinesischen Fachleuten nicht leicht. Und so besteht bei
alten Texten zwar Einigkeit im groben Wortgefüge,
nicht jedoch bei den Feinheiten einzelner Bedeutungen. Der Inhalt des TAO TE KING zielt zudem nicht auf die uns vertraute alltägliche Sicht der Welt. Im TAO TE KING geht es um jene letzte Wirklichkeit, von der alle großen Schriften der Menschheitsgeschichte handeln: Dem Erfassen der Welt von höchstem Stand, eine unpersönliche Sicht, ein Begreifen von transzendenter Warte. Wer wollte das in verbindliche Worte fassen. Hierin liegt der eigentliche Grund, warum immer wieder neue Übertragungen erscheinen. Denn das TAO TE KING ist wie ein Spiegel, in dem jeder Interpret zuerst sich selbst erblickt. Bei aller Wissenschaft und Sachlichkeit ist es kaum möglich, sich hier einer persönlichen Interpretation zu entziehen. Den größten Gewinn hat deshalb der, der sich dem Text des TAO TE KING intensiv aussetzt; aussetzt im Sinne eines tiefen Eintauchens beim Lesen oder im Ausformulieren eines eigenen Textentwurfs. Denn erst im eigenen Entwerfen, im Nachsinnen und Abwägen offenbart sich die Fülle an unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten, an Sichtweisen – ja, Bedeutungsebenen. Obwohl das TAO TE KING nur aus Worten besteht, geht es ja nicht um die Worte selbst. Sie sind nur Mittler. Das Eintauchen ins Sujet verändert und führt, symbolisch gesprochen, in eine Welt hinter den Worten. Und so kommt es auch für den Leser nicht darauf an, eine letztgültige Übersetzungsversion zu suchen, sondern besser zu schauen, welche Einsichten eine jede bietet. Die Auseinandersetzung mit dem TAO TE KING kann ein Hilfsmittel auf dem eigenen Entwicklungsweg sein. Ein meditativer Führer. Man kann seine Bedeutung nicht erklärt bekommen. Man muß sie finden." (Aus dem Vorwort)
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